Geschichte der Evangelischen Gehörlosengemeinde Hamburg

Die Anfänge der Evangelischen Gehörlosengemeinde Hamburg reichen zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts:
In den 20er Jahren gab es die ersten Gehörlosengottesdienste. Fast gleichzeitig startete das Angebot von Gehörlosengottesdiensten in verschiedenen Regionen:

ab 1922 in Altona; ab 1924 in Stormarn (Kreuzkirche Wandsbek); ab 1927 in Hamburg. Seit 1928 gab es mit Pastor Friedrich Wapenhensch einen eigenen Gehörlosenseelsorger in Hamburg; er hielt die Gottesdienste in der Hauptkirche St. Petri.

Dass es an so vielen verschiedenen Orten gleichzeitig Gehörlosengottesdienste gab, hatte den Grund, dass es noch viele kleinere Landeskirchen gab:
Die Evangelisch-Lutherische Kirche Schleswig-Holsteins und die Evangelisch-Lutherische Kirche im Hamburgischen Staate waren zwei unterschiedliche Landeskirchen. Erst ab 1977 mit der Gründung Nordelbiens gehörten die Gebiete zu einer gemeinsamen Landeskirche.

Für die Herausbildung eines Gemeindelebens waren zwei Jahre besonders prägend.

- Ab 1961 gab es regelmäßige Gehörlosengottesdienste an der Christuskirche Wandsbek, durchgeführt von Martin Rehder und Jürgen Knaak, die beide als Vikare ihre Ausbildung an der Christuskirche machten.

- Und der Deutsche Evangelische Kirchentag 1981 in Hamburg brachte neue Denkanstöße und eine große Motivation zum eigenen Gestalten in die Gehörlosengemeinde Hamburg.

Beide Ereignisse haben zu einem großen ehrenamtlichen Engagement Gehörloser geführt.

1. Es wurde üblich, nach den Gottesdiensten in Wandsbek zum Kaffeetrinken zusammenzubleiben. Der Kirchkaffee wurde Treffpunkt für Gespräche und Austausch in Gebärdensprache. Dafür brauchte man Ehrenamtliche, die das Kaffeetrinken vorbereiteten, Tische deckten und anschließend wieder aufräumten: Die Küchen-Teams entstanden. Das Angebot wurde so attraktiv, dass nun auch die Gehörlosen aus Hamburg gerne nach Wandsbek kamen.
Bereits 1964, nachdem der Hamburger Gehörlosenseelsorger Arnold Dummann in den Ruhestand ging und Pastor Martin Rehder übernahm, kam es zum Zusammenschluss der Hamburger und der Schleswig-Holsteiner Gehörlosengemeinden zu einer Gemeinde – 13 Jahre vor der Gründung der Nordelbischen Landeskirche.

2. Für den Kirchentag 1981 wurde freiwillige Helferinnen und Helfer gebraucht, die bei einem eigenen Eröffnungsgottesdienst in Gebärdensprache mithalfen oder am Informationsstand im CCH die Gäste des Kirchentages begrüßten und sie über Gehörlosigkeit aufklärten. Nach dem Kirchentag war schnell klar: Dieser Helferkreis sollte weiter bestehen bleiben! Somit wurde der Gemeindevorstand der Evangelischen Gehörlosengemeinde Hamburg gegründet.

Die erste Wahl zum Gemeindevorstand fand 1983 statt. 1985 hat der Gemeindevorstand eine eigene Gemeindeordnung beschlossen, deren Gültigkeit auch offiziell vom Kirchenamt Nordelbiens bestätigt wurde.

Noch heute wird die Gehörlosengemeinde vom Ehrenamt geprägt und getragen. Ehrenämter haben sich in den vergangenen 60 Jahren hauptsächlich rund um den Gottesdienst herausgebildet:

- Seit Anfang der 70er Jahre gibt es einen Gebärdenchor, ursprünglich nach amerikanischen Vorbild gegründet. Der Gebärdenchor hat eine großartige Entwicklung genommen, kulturell vom jeweiligen Geschmack des Jahrzehnts geprägt: Von lautsprach-begleitenden Gebärden hin zu Gebärdenpoesie; von einem reinen Gehörlosen-Chor hin zum inklusiven Chor Hands & Soul; von blauen Chormänteln hin zu Chor-T-Shirts mit Logo und Schals in Farben des Kirchenjahres.

2017 wurde Hands & Soul mit dem Inklusionspreis der Nordkirche ausgezeichnet.

- Seit 1987 werden gehörlose Ehrenamtliche zu Lektor*innen ausgebildet. Die Lektor*innen wirken mit im Gottesdienst, gebärden die Bibeltexte und Gebete, helfen mit bei der Austeilung vom Abendmahl oder führen eigenständig Lektorengottesdienste durch.

- Im März 2001 fand der erste Familiengottesdienst in Gebärdensprache in der Martin-Luther-Kirche Alsterdorf statt. Ein Familiengottesdienst-Team, in dem überwiegend gehörlose Eltern vertreten sind, bereitet locker-fröhliche Gottesdienste vor sowie ein buntes Programm im Anschluss mit Bastelangebot, Spielen und Kaffeetrinken.

- Ab 2011 hat sich das Konzept Inklusiver Konfirmandenunterricht durchgesetzt. Im Konfi-Team helfen Jugendliche mit, die zweisprachig aufgewachsen sind: in Lautsprache und in Gebärdensprache.

Die Evangelische Gehörlosengemeinde Hamburg entwickelt sich stetig weiter.

Aktuelle Themen sind zum Beispiel: junge Leute als Nachwuchs; digitale Angebote; Umweltschutz; Aufklärung gegen anti-demokratische Entwicklungen; Schutz vor sexualisierter Gewalt; Inklusion in der Nordkirche; Ökumene; Jubiläen:

60 Jahre Gehörlosengottesdienste an der Christuskirche Wandsbek;

20 Jahre Familiengottesdienste an der Martin-Luther-Kirche Alsterdorf;

10 Jahre inklusive Konfirmandenarbeit –

und in den kommenden Jahren:

100 Jahre Gehörlosen-Gemeindeleben im Hamburger Raum.

Pastorin Systa Rehder, April 2021

Quellen:

- Martin Rehder, Gemeindebericht anläßlich der pröpstlichen Visitation 1998 (unveröffentlicht);

- Iris Groschek, Unterwegs in eine Welt des Verstehens – Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Hamburg 2008, Kap. 10: Gehörlosenseelsorge, S. 359 ff.

- wikipedia.de: Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche